Kleines Land, großes Spiel
Erst seit gut drei Jahren ist das Kosovo UEFA-Mitglied. Jetzt fehlen noch zwei Siege – und das kleine Balkanland ist für die Europameisterschaft 2020 qualifiziert. Über den beschwerlichen Weg zu einem möglichen Fußballmärchen.
Am 3. Mai 2016 wurden die jahrelangen diplomatischen Anstrengungen endlich belohnt. 300 Seiten war der Aufnahmeantrag lang, auf dessen Grundlage der UEFA-Kongress in Budapest das Kosovo als 55. Mitglied aufnahm. Mit 28 zu 24 Stimmen bei zwei Enthaltungen fiel die Abstimmung knapp aus, doch der Freude tat das keinen Abbruch: Die kosovarische Delegation und die mitgereisten Journalisten fielen sich in die Arme, Tränen flossen. „Es war wirklich sehr emotional“, erinnert sich der Generalsekretär des kosovarischen Fußballverbands, Eroll Salihu.
Seitdem herrscht Fußball-Euphorie in dem kleinen Balkanland mit gerade einmal 1,8 Millionen Einwohnern. Zum Zeitpunkt der UEFA-Aufnahme hatte Kosovo zwar noch nicht einmal ein Stadion, das internationalen Kriterien genügte. Die Heimspiele mussten deshalb zunächst noch in der nordalbanischen Stadt Shkodra ausgetragen werden. Doch dann war das alte Fadil-Vokkri-Stadion in Pristina endlich fertig saniert, mit dem Schweizer Bernard Challandes kam ein neuer Trainer – und die Mannschaft hatte plötzlich einen Lauf: 15 Spiele hintereinander blieb die Nationalmannschaft ungeschlagen. In der UEFA Nations League gewann sie ihre Gruppe in der Liga D und in der EM-Qualifikation wurden u. a. Bulgarien und Tschechien besiegt. „Es ist unglaublich“, sagt Salihu. „Alle unsere Erwartungen sind schon jetzt übertroffen.“
Tatsächlich hat der Erfolg der in jeglicher Hinsicht jungen Mannschaft fast etwas Märchenhaftes. Noch vor 25 Jahren fand Fußball im Kosovo fast ausschließlich auf zermatschten Wiesen und ramponierten Dorfplätzen statt. Als das Kosovo noch zu Jugoslawien und später zu Serbien gehörte, hatten die Albaner eine Art Parallelstaat errichtet: Die Schüler wurden in Privathäusern unterrichtet, Kranke in improvisierten Kliniken behandelt – und auch die albanischen Fußballspieler zogen sich 1991 aus der jugoslawischen Gesamtliga zurück und gründeten eine eigene Liga. Am 13. September fiel dort das erste Tor. Der Torschütze: Eroll Salihu. Mit dem FK Prishtina hatte er zuvor noch in der höchsten jugoslawischen Liga gespielt, aber dieses Tor, sagt er, „das war für mich ein historischer Moment“.
Kosovo im Fußballfieber.
Kosovo im Fußballfieber.
Der illegalen Alternativliga jedoch fehlte es an allem. Die offiziellen Plätze und Stadien des Kosovo waren in serbischer Hand und obwohl die Spiele deshalb oft auf abgelegenen Wiesen stattfanden, kamen teilweise mehrere Tausend Zuschauer. Gewaschen wurde sich in Bächen, als Umkleidekabinen dienten alte Lieferwagen. Die serbische Polizei versuchte immer wieder, die Spiele durch willkürliche Verhaftungen zu verhindern. Dennoch gelang es dem inoffiziellen kosovarischen Fußballverband, den Spielbetrieb mehr oder weniger aufrechtzuerhalten – bis 1998 der offene Krieg ausbrach, der erst ein Jahr später mit dem Eingriff der Nato beendet wurde. Eroll Salihu war da schon nach Deutschland geflüchtet, er spielte für Wilhelmshaven in der Regionalliga und machte seinen Trainerschein. Nach fünf Jahren kehrte er zurück. „Kosovo ist mein Land“, sagt er.
Es gab kein Geld, keine Infrastruktur, kaum Spiele, keine konkurrenzfähige Mannschaft.
Das Land hatte da zwar schon eine Nationalmannschaft, aber die fand fast keine Gegner. Denn international war das nun unter UN-Verwaltung stehende Land isoliert. Das änderte sich auch nicht nach der Unabhängigkeitserklärung von 2008. Serbien betrachtet Kosovo weiterhin als eigene Provinz und wird dabei von Russland unterstützt. Fünf EU-Staaten – Spanien, Griechenland, Rumänien, die Slowakei und Zypern – verweigern Kosovo bis heute die Anerkennung. Und auch die eigene Bevölkerung stand der eigenen Auswahl lange Zeit merkwürdig unbeteiligt gegenüber. Die überwiegende Mehrheit der Kosovo-Albaner drückte der Nationalelf des „Mutterlands“ Albanien die Daumen.
2006 wurde Salihu Generalsekretär des kosovarischen Fußballverbands. Die Herausforderungen, vor denen er stand, waren enorm: Es gab kein Geld, keine Infrastruktur, kaum Spiele, keine konkurrenzfähige Mannschaft. Im Kosovo selbst war in den 1990er-Jahren eine ganze Generation verloren gegangen, weshalb sich der Blick der Fußballfunktionäre von Anfang an nach Westeuropa richtete. In den Ligen von Deutschland, der Schweiz, Belgien und Norwegen fand sich mit den Kindern der kosovarischen Kriegsflüchtlinge eine neue, vielversprechende Generation. Manche spielten schon in den Jugendauswahlmannschaften der Länder, in denen sie aufgewachsen waren, und schielten auf die Nationalmannschaften. Sie mussten sich nun entscheiden. „Aber wir haben auf niemanden Druck ausgeübt“, betont Salihu. So sagte auch nicht jeder zu, doch am Ende war es trotzdem gelungen, eine Mischung aus Erst- und Zweitligaspielern zusammenzustellen, die im vergangenen Jahr in Europa zur großen Überraschung wurde.
Und mit dem Erfolg entdeckten auch die Kosovaren plötzlich ihre Liebe zum eigenen Team. Für Generalsekretär Eroll Salihu ist inzwischen das größte Problem, wie er die ganzen Ticketanfragen bewältigen soll. Als im November vergangenen Jahres England im Kosovo gastierte, wollten 135.000 Menschen das Spiel sehen – in einem Stadion mit gerade einmal 13.000 Plätzen. Und obwohl es in der regulären Qualifikation dann doch nicht reichte, könnte es noch über die Hintertür gelingen: Über die UEFA Nations League hat das Kosovo sich für die EM-Play-offs qualifiziert. Im Oktober und November geht es zunächst gegen das ebenfalls junge Nachbarland Nordmazedonien, dann muss noch Weißrussland oder Georgien besiegt werden – und das Kosovo führe tatsächlich zur EM. „Ich kann mir gar nicht ausmalen, was dann hier los ist“, sagt Salihu. Das Land würde Kopf stehen.
Sollte Kosovo die Sensation schaffen, würde das die UEFA allerdings vor eine diplomatische Herausforderung stellen. Denn mit Spanien, Aserbaidschan, Rumänien und Russland erkennen vier Gastgeberländer der EM den Kosovo nicht als Staat an. Entsprechend kompliziert ist die Auslosung für die EM-Gruppen. Ein direktes Aufeinandertreffen mit Russland in der Vorrunde ist ausgeschlossen. Aber auch in Spanien ist die Ablehnung aufgrund des eigenen Konflikts mit Katalonien groß. In der Vergangenheit musste ein Spiel der U17-Nationalmannschaften von Kosovo und Spanien auf neutrales Terrain verlegt werden, weil der spanische Verband keine nationalen Symbole des Kosovo zulassen wollte. „Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Spanien sich bei einer so großen Veranstaltung noch einmal traut, auf einen derartigen Konfrontationskurs zu gehen“, sagt der Sozialwissenschaftler Dario Brentin, der über Fußball auf dem Balkan forscht. Er sieht das Problem ohnehin weniger bei der UEFA, sondern bei den Ländern, die sich Sorgen um ihr Image machen dürften.
Dass der sportliche Erfolg bei der internationalen Anerkennung des Kosovo hilft, hofft auch Eroll Salihu. „Wir gehören zu Europa und wir wollen endlich vollständig gleichberechtigt sein“, bekräftigt der Generalsekretär, wohl wissend, dass das letztlich doch eine rein politische Frage ist. Die Fußballwelt braucht nach den bisherigen Auftritten der kosovarischen Nationalmannschaft wohl kaum noch überzeugt zu werden. Fußballerisch ist Kosovo auf jeden Fall schon angekommen in Europa.