Wanja Greuel im Interview

Wie die Young Boys Bern gegen Depression im Fußball kämpfen

Wie die Young Boys Bern gegen Depression im Fußball kämpfen

Der Schweizer Meister Young Boys Bern hat ein Programm eingeführt, um Depressionen im Sport zu bekämpfen. CEO Wanja Greuel erklärt im Interview das Wie und das Warum.

Neun von zehn Menschen durchleben irgendwann eine längere psychische Krise, 20 Prozent davon entwickeln ein ernsthaftes Problem – über das viele aus Scham und Ausgrenzungsangst nicht reden. Auch den Fußball erreicht das Thema in regelmäßigen Abständen. Jedem Fan stockt beim Gedanken an den 10. November 2009 heute noch der Atem. Das war der Herbstabend, an dem sich der Familienvater, Nationalspieler und Hannover-96-Kapitän Robert Enke mit 32 Jahren das Leben nahm.

Die Young Boys Bern setzen sich daher nun für psychische Gesundheit ein. Dafür will der Klub seine Mitarbeiter*innen zu Frühwarnsystemen im Kampf gegen Depression im Sport machen. Zum Einsatz kommt dabei das Erste-Hilfe-Programm ensa der Stiftung Pro Mente Sana. Die mit diesem Programm geschulten Mitarbeiter*innen sollen schnell erkennen und helfen können, wenn ein Team-Mitglied Anzeichen von Depressionen zeigt. Anlässlich des Weltgesundheitstags sprachen wir mit Young-Boys-Bern-CEO Wanja Greuel darüber, was psychische Gesundheit mit Erfolg zu tun hat, welchem Druck Spitzenfußballer ausgesetzt sind – und wie er das 1:7 von Brasilien gegen Deutschland damals im Stadion erlebt hat.

Erinnern Sie sich auch noch an den 10. November 2009, den Todestag von Robert Enke, Herr Greuel?

Absolut. Ich erinnere mich sehr gut an den Moment, als ich damals die Push-Nachricht auf mein Handy kriegte. In einem Wort: Riesenschock. Im ersten Moment einfach nicht erklärbar, ich konnte es nicht glauben. Gleichzeitig zeigte es auf, wie fragil die menschliche Psyche ist. Von uns allen. Es kann jeden treffen. Sein Suizid traf mich wie ein Hammer.

Wann haben Sie erkannt, dass man das Thema psychische Gesundheit priorisieren muss – auf allen hierarchischen Ebenen?

Muss man dies explizit erkennen? Für uns ist dies selbstverständlich – und die Basis von allem. Es geht darum, dass es unseren Mitarbeitern und auch Spielern gut geht. Dass wir ihnen in allen Bereichen bestmögliche Voraussetzungen schaffen, damit sie zufrieden und erfüllt ihrer Arbeit nachgehen können. Denn das ist die Grundlage, um erfolgreich sein zu können.

Die Young Boys sind der erste Fußballklub, der ein professionelles Programm wie ensa (bedeutet in der Sprache australischer Ureinwohner „Antwort“) installiert und offensiv kommuniziert. Warum ist das so?

Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung bewusst und möchten unsere Präsenz und gesellschaftliche Stellung als Fußballverein nutzen, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Mensch steht bei uns im Zentrum.

Wie läuft das Programm genau ab?

Die Kurse dauern insgesamt rund 14 Stunden und versetzen Laien in die Lage, auf Betroffene mit psychischen Schwierigkeiten zuzugehen und Erste Hilfe zu leisten – als Überbrückungsleistung, bis professionelle Psychiater übernehmen können. Gerade am Arbeitsplatz können psychische Probleme frühzeitig erkannt und Kolleg*innen zu professioneller Hilfe ermutigt werden. Denn Frühinterventionen verbessern die Prognose auf Genesung, Leidenswege werden verkürzt und Langzeitabsenzen vermieden. Durch die Kurse wird das Wissen über psychische Gesundheit breit im Unternehmen verankert und das Team gestärkt.

Wenn man über psychische Gesundheit im Sport spricht, ist der Sprung zum Cybermobbing nicht weit – Spieler und ihre Familien werden im Internet schlimm beleidigt, mitunter mit dem Tod bedroht. Wie geht YB damit um? Was müssen wir im Spitzensport an der Basis, also im Fanbereich, ändern, damit es gar nicht so weit kommt?

Dies ist ein großes, für mich auch übergeordnetes Thema. Cybermobbing und Mobbing generell sind ein gefährliches Phänomen. Unabhängig davon, ob es Spitzensportler, Filmstars oder Schüler betrifft. Auch ich bekomme gelegentlich faktenlose E-Mails, die sehr negativ sein können. Die lösche ich, wenn sie unter der Gürtellinie sind. Unsere Spieler stehen aber noch ungleich stärker im Mittelpunkt als ich und werden entsprechend häufiger angeschrieben. Alles, was wir als Klub abfedern können, ist zum Wohle aller.  



Da kommt einem die Initiative von Hertha-Profi Maximilian Mittelstädt in den Sinn, der sich mit Ron-Robert Zieler, welcher 2018 von den eigenen Fans während eines Spiels aufgefordert wurde, „es wie Enke zu machen“, angeschlossen hat. Wie bewerten Sie Aktion und Reaktion?

Man muss einfach dagegenhalten – solche Aktionen dürfen in einer zivilisierten Gesellschaft so nicht passieren und müssen abgestraft werden. Die Reaktion der offenen Kommunikation sehe ich als wichtigen Teil dessen, was man auf Klub- und Spielerseite machen kann. Den Dialog fördern und Zusammenhalt in der Sache demonstrieren.


Hilft es, wenn Stars oder größere Institutionen sich einschalten und diese Probleme auch auf ihren Kanälen thematisieren?

Ja, wenn, wie in diesem Fall, Leute wie Toni Kroos ihre Reichweite zur Verfügung stellen und der Botschaft authentisch die Aufmerksamkeit verleihen, die sie zwingend braucht, sind wir auf dem richtigen Weg. Bei den Young Boys wählen wir zusätzlich den gesamtheitlichen Ansatz. Als Klub leben wir Toleranz, Respekt, Empathie und Loyalität vor. Ausnahmslos alle – und da nehmen wir auch unsere geschätzten Fans in die Pflicht. 



Die EM 2021 steht vor der Tür. Wie verhindert man hier, dass Fan-Frust eskaliert und Spieler oder Funktionäre an und über psychische Grenzen hinausgetrieben werden?

Ein Vergleich zu unserer aktuellen Situation: Wir stehen aktuell vor dem vierten Schweizer Meistertitel in Folge. Das weckt Erwartungen. Genauso wird es bei der EM sein. Alle, die schon Europameister wurden, die Deutschen, die Italiener, die Franzosen, Spanier – alle wollen es erneut werden. Aber nur einer wird es. Und das wiederum hängt von vielen Faktoren ab, die man teilweise gar nicht aktiv beeinflussen kann. Es ist entscheidend, vernünftiges Erwartungsmanagement zu betreiben. Was ist aktuell realistisch? Wo kommen wir her? Und das gilt es zu kommunizieren – mit allen Beteiligten. Über alle passenden Kanäle. Das hilft schon enorm. 



Und doch gibt es Beispiele wie Brasilien 2014, als die Nationalmannschaft im eigenen Land im Halbfinale auseinanderfiel und mit 1:7 verlor.

Ich war im Stadion. Und als Fan der deutschen Nationalmannschaft war die Vorfreude riesig. So ein Spiel vor so einer Kulisse – in Brasilien. Besser geht´s nicht. Dann fielen die ersten Tore, natürlich war ich begeistert. Gleichzeitig sah ich, wie viele Brasilianer um mich in Tränen ausbrachen. Surreal. Das ist mit Abstand das denkwürdigste Spiel, welches ich je live miterlebt habe. 



Was für eine mentale Herausforderung für alle Beteiligten.


Ja, die deutschen Spieler haben sich nach dem Spiel schon entschuldigend geäußert. Und die Brasilianer schämten sich für ihre Leistung, fühlten eine Schuld gegenüber dem ganzen Land. 210 Millionen Menschen sehnten sich nach dem Titel im eigenen Land. Und dieser Druck lag auf den schmalen Schultern von elf Jungs mit Fußballschuhen.

Die Seleção wurde tags darauf mit Spott und Häme überschüttet. Müssen die Medien sich dafür auch hinterfragen? Sie sind ja selber TV-Profi, haben für DSF und Premiere gearbeitet.

Es ist schwierig, das pauschal zu beantworten. Die Medien sind auch im positiven Sinne Teil des Sportbusiness. Aber natürlich haben beispielsweise auch die Boulevardmedien eine Verantwortung, der sie gerecht werden müssen.



Wie sehen Sie – auf psychologische und mentale Werte bezogen – Leadership im europäischen Spitzensport der Zukunft?

Unabhängig vom Spitzensport fallen mir jene Werte und Prinzipien ein, die wir fest in unserer Unternehmenskultur implementieren konnten – wie zum Beispiel Ehrgeiz, Leidenschaft, Ehrlichkeit, Transparenz, Teamspirit, Fairness, Respekt und Wertschätzung. Und dabei muss das Wohlbefinden der Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, im Mittelpunkt stehen.

Ein schönes Schlusswort. Weiterhin viel Erfolg und danke für das offene Gespräch.

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