André Lenz über seine Einwechslung beim 5:1 gegen Bayern: „Wie ein Ritterschlag“
Auf dem Weg zum Titel gewinnt Wolfsburg im April 2009 gegen Bayern 5:1. Kurz vor Schluss wird Torwart André Lenz eingewechselt. Die Bayern fühlten sich gedemütigt. Im Interview verrät Lenz, ob das so geplant war und wie er Grafites Traumtor erlebte.
Bei 28 Grad im Dezember lässt sich das Leben genießen. André Lenz sitzt in der Weihnachtszeit auf seiner Bambusterrasse, genießt die Sonne und blickt direkt aufs Meer. In Kuba hat sich der ehemalige Wolfsburg-Torwart ein neues Leben aufgebaut, betreibt mit seiner Frau Liz das Restaurant „Club Bambú“, rund 30 Kilometer östlich von Havanna.
Während bei Lenz Karibikflair herrscht, geht die Bundesliga in den Hinrundenendspurt. Am 17. Spieltag trifft der VfL Wolfsburg auf den FC Bayern. Vor diesem Duell geht der Blick auch immer zurück auf den 4. April 2009, als die Wolfsburger den deutschen Rekordmeister mit 5:1 abschossen – das Jahrhundertsolo-Hackentraumtor von Grafite wurde weltbekannt. Mit diesem Spiel holten sich die Wolfsburger am 26. Spieltag das Selbstbewusstsein für das Meisterschaftsfinale und sicherten sich am Saisonende erstmals die Schale.
Auch André Lenz sorgte bei diesem Spiel für Schlagzeilen, obwohl er hinter Diego Benaglio nur zweiter Torhüter war. In der 89. Minute wechselte Trainer Felix Magath seinen Ersatzmann ein. Die Bayern waren hinterher außer sich, sprachen von Provokation und Demütigung. „Wenn der gegnerische Trainer den Torwart auswechselt, tut das weh“, sagte der damalige Bayern-Coach Jürgen Klinsmann.
Dabei sei es gar nicht böse gemeint gewesen, sagt Lenz. Im Interview verrät der Torhüter, wie er Grafites Tor von der Bank aus verfolgte und ob die Einwechslung geplant war.
Herr Lenz, am Freitag spielt Wolfsburg gegen Bayern. Ganz Fußball-Deutschland erinnert sich da an das legendäre 5:1 aus dem Meisterjahr 2009. War es für Ihr Team das perfekte Fußballspiel?
Auch nach so langer Zeit ist das Spiel noch in allen Köpfen in Wolfsburg präsent. Nicht nur für den VfL, sondern für die ganze Stadt und alle Beteiligten war es ein perfekter Tag. Angefangen beim Wetter, über die Leistung auf dem Platz bis hin zur tollen Stimmung im Stadion – mehr geht einfach nicht.
Mit diesem Ausgang konnte aber niemand rechnen. Mit welcher Erwartungshaltung sind Sie in das Spiel gegangen?
Wir hatten schon eine starke Truppe, aber Bayern ist halt Bayern. Ein absolutes Topteam. An einem guten Tag sind sie nicht zu schlagen. Da kommt es auf die Tagesform und etwas Glück an. Aber bei uns lief an diesem Samstagnachmittag einfach alles zusammen.
Wie haben Sie das Spektakel auf der Bank erlebt?
Es war vor allem beeindruckend, wie wir die Tore gemacht haben; das war spielerisch überragend. Dass es dann so einen Lauf nimmt, mit all diesen Emotionen, ist auch über zwölf Jahre später noch schwer zu glauben.
Das irre Solo von Grafite zum 5:1 ist legendär. Konnten Sie schon von der Bank aus sehen, dass es ein Jahrhunderttor ist?
Nein, nein. Man sieht den Spielzug, man sieht, wie er da durchgeht, und denkt sich eher: Jetzt schließ doch mal ab! Aber er läuft einfach weiter und dribbelt noch einen aus und legt das Ding am Ende mit der Hacke ins Tor. Von der Bank aus ist der Ball wie in Zeitlupe reingetrudelt. Aber so richtig habe ich erst später im Fernsehen gemerkt, was für ein sensationelles Tor das war.
War Ihre Einwechslung kurz vor Schluss eigentlich vorherabgesprochen?
Nein, das nicht. Der Trainer sagte mir, dass ich auf einerPosition spiele, auf der nicht viel gewechselt wird. Aber wenn es sich ergäbe,dann würde ich meine Chance bekommen. Ich hatte mit Felix Magath ein großesVertrauensverhältnis.
Wann haben Sie von Ihrer Einwechslung erfahren?
Ich saß eigentlich relativ relaxt auf der Bank. Nach dem 5:1habe ich mal zum Trainerteam geguckt und dann kam die Frage: Bist du bereit?Ich habe gedacht: Natürlich bin ich bereit. Aber es war eine Überraschung undso nicht abgesprochen.
Sie hatten also gar keine Chance mehr, sich warm zumachen?
Nein, ich bin dann kalt aufs Feld gegangen. Aber was soll inder 89. Minute noch groß anbrennen? Da kannst du auch jemanden aus der Duscheholen und ins Tor stellen. (lacht)
Was hat Diego Benaglio Ihnen beim Wechsel gesagt?
Da bedarf es gar nicht vieler Worte. Wir haben uns kurz angelächelt und umarmt. Diego und ich hatten trotz der Konkurrenzsituation immer ein super Verhältnis.
Konnten Sie die paar Minuten auf dem Feld denn genießen?
Ich habe es schon genossen, aber das Adrenalin ist natürlich da. Fehler können immer passieren, egal, wie lange du spielst. Deswegen war ich immer hoch konzentriert.
Die Bayern haben die Einwechslung hinterher als Provokation und Demütigung empfunden. Wie sehen Sie das heute?
Es war mit Felix Magath, der gegen seinen Ex-Klub spielte, natürlich eine spezielle Situation. Für mich war die Einwechselung wie ein Ritterschlag des Trainers. Er hat einfach spontan sein Versprechen gehalten, mich zu bringen, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet. Dass es nun ausgerechnet bei einem 5:1 gegen Bayern München dazu kommt, konnte vorher niemand ahnen. Aber aus Sicht des Gegners kann ich die Aufregung auch nachvollziehen.
Was hätte der Trainer André Lenz in der Situation gemacht?
Wenn ich jemanden habe, der immer alles gibt und loyal ist, dann hätte ich genauso gehandelt.
Sie haben Stammtorhüter Diego Benaglio in der Saison auch einige Male über 90 Minuten vertreten und dabei gute Leistungen gezeigt. War die Einwechslung gegen Bayern trotzdem Ihr Meisterschaftsmoment?
Ich habe zum Beispiel beim Sieg in Hamburg am 22. Spieltag ein Topspiel gemacht und ab da haben wir eine Serie gestartet. Da bin ich dann schon etwas egoistisch und muss sagen, dass das für mich mehr Bedeutung auf dem Weg zum Titel hatte als die Einwechslung gegen Bayern.
Wer waren neben Felix Magath für Sie die Eckpfeiler der Meisterschaft?
Grafite und Edin Džeko im Sturm waren überragende Einzelspieler, dazu kam mit Marcel Schäfer ein absoluter Leader, der ehrlich und sympathisch war. Zusammen mit Zvjezdan Misimović und Diego Benaglio waren das die Stützen, an die sich auch andere Spieler anlehnen konnten.
Wie schwer war es zu akzeptieren, Teil einer Topmannschaft zu sein, zu dessen Erfolg man selbst aber gar nicht so viel beitragen konnte?
Jeder will so viel spielen wie möglich, aber in der Meistersaison war ich mit 35 Jahren praktisch der Vater der Mannschaft. Und dann habe ich halt meinen Beitrag primär im Training und von der Bank aus geleistet. Aber wenn ich gebraucht wurde, war ich da.